Im Lauf der Kirchengeschichte hat man die Bibel auf sehr unterschiedliche Arten gelesen. Bestehende Methoden wurden vervollkommnet und neue entwickelt, um immer tiefer dem Sinn des Wortes Gottes im Menschenwort nahe zu kommen. Diese Methodenvielfalt zeugt vom ungemeinen Reichtum der in der Schrift niedergelegten Botschaft, denn diese will und kann immer wieder neu gehört und verstanden werden.
Inhalt |
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I. DIE HISTORISCH-KRITISCHE METHODE
II. METHODEN DER LITERARISCHEN ANALYSE
III. AUF DIE TRADITION GEGRÜNDETE ZUGÄNGE
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IV. ZUGÄNGE ÜBER DIE HUMANWISSENSCHAFTEN
V. KONTEXTUELLE ZUGÄNGE
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Eine grundsätzliche Unterscheidung der Methoden liegt darin, ob sie einen Zugang zur Entstehungsgeschichte der Texte suchen (diachron), oder ob sie den vorliegenden Text untersuchen und beschreiben (synchron).
Keiner wissenschaftlichen Methode der Erforschung der Bibel ist es möglich, für sich allein dem Reichtum der biblischen Texte ganz gerecht werden. So kann auch die historisch-kritische Methode nicht den Anspruch erheben, allem zu genügen. Sie lässt unweigerlich zahlreiche Aspekte der Texte, die sie erforscht, im Dunkeln. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass immer wieder neue Methoden und Zugänge vorgeschlagen werden, um den einen oder andern wichtigen Aspekt eines Textes tiefer zu erfassen. Im Folgendenden eine kurze Erläuterung verschiedener Ansätze, die den synchronen Zugang zum Bibeltext suchen.
Die oben dargestellten literarischen Methoden legen im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode ihr Gewicht auf die innere Einheit der erforschten Texte, doch untersuchen sie jeden Text isoliert für sich. Die Bibel ist aber nun nicht einfach nur eine Sammlung von Texten, die beziehungslos nebeneinander stehen; sie ist vielmehr eine Einheit von Zeugnissen einer einzigen großen Tradition. Auch dieser Tatsache muss die biblische Exegese Rechnung tragen; sie tut es mit mehreren modernen Zugängen.
Um sich mitzuteilen, hat das Wort Gottes im konkreten Leben eines Volkes Wurzeln gefasst (vgl. Sir 24,12). Es bahnte sich einen Weg durch die Bedingungen der biblischen Verfasser hindurch. Deshalb können die Humanwissenschaften - besonders die Soziologie, Anthropologie und Psychologie - zu einem besseren Verständnis gewisser Aspekte der Texte vieles beitragen. Es muss jedoch beachtet werden, dass es verschiedene Schulen mit beträchtlichen Abweichungen bezüglich der Natur dieser Wissenschaften gibt. Trotzdem haben tatsächlich zahlreiche Exegeten aus den neuesten Forschungen auf diesen Gebieten Gewinn gezogen.
Die Auslegung eines Textes hängt immer von der Mentalität und der Situation seiner Leser ab. Diese wenden gewissen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu und vernachlässigen unbewusst andere. Es ist deshalb unvermeidlich, dass die Exegeten in ihrer Arbeit unter dem Einfluss aktueller Denkströmungen neue Gesichtspunkte entdecken, die vorher nicht genügend wahrgenommen wurden. Dies verlangt jedoch kritisches Unterscheidungsvermögen. Heute sind es besonders die Befreiungsbewegungen und der Feminismus, die auf die größte Beachtung stoßen.
Erklärung der im Text unterlegten Fach-Begriffe aggiornamento (italienisch: Modernisierung), Leitmotiv des 2. Vatikanischen Konzils, von Papst Johannes XXIII. geprägt. Es geht um ein neues radikales Eintauchen in den überlieferten Glauben mit dem Ziel, das christliche Leben und das Leben der Kirche zu erneuern im Geist der Freundschaft mit dem Menschen.
CELAM, Abkürzung für den Lateinamerikanischen Bischofsrat.
authentisch, (griechisch) vom Verfasser stammend, beglaubigt; echt, verbürgt.
Eschatologie (griechisch eschata: letzte Dinge), Glaubensvorstellungen, die sowohl das Leben nach dem Tod des einzelnen als auch das Ende der Welt betreffen.
transzendent, Transzendenz (lateinisch: Überschreiten), bezeichnet die Tatsache, dass der Mensch von jeher in seinem Denken diese Welt überschreitet, transzendiert. Er denkt über das Lebensnotwendige hinaus an das Überweltliche, an Gott.
Gesellschaftsanalyse, Seit Ende des 2. Weltkrieges wird in der Soziologie immer öfter versucht, die rasante Veränderung der Industriegesellschaften, u.a. durch die schnelle Entwicklung in den Kommunikations- technologien, in beschreibend positivistischen Gesellschaftsanalysen zu erfassen. Technische Neuerungen und politische Umwälzungen haben danach das Leben in vielen gesellschaftlichen Bereichen wie auch zwischen den einzelnen Menschen zum Teil erheblich verändert.
materialistisch, Materialismus (lateinisch materia: Stoff, Material), eine Weltanschauung, die nur die Materie als wirklich anerkennt. Es existiert demnach nur, was man greifen, wahrnehmen und berechnen kann. Vor allem unter Karl Marx fand der Materialismus starke Verbreitung.
Klassenkampf, Bezeichnung für den offenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Klassen aufgrund fundamentaler Interessengegensätze sowie die Austragung dieses Konfliktes. Karl Marx definierte alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urgeschichte, als eine Geschichte von Klassenkämpfen.
Bezeichnung für die Theorie der Frauenbewegung und für die gegen die gesellschaftliche Dominanz der Männer gerichtete Bewegung für die Gleichberechtigung der Frauen.
Patriarchalismus, Staats-, Gesellschaft- und Wirtschaftsordnung in der Staatsoberhaupt, Grundherr oder Unternehmer verstanden wird als eine Art Familienoberhaupt über Untertanen, Gesinde oder Arbeitnehmer. Er besitzt umfassende Herrschaftsrechte, aber auch viele Fürsorgepflichten.
Androzentrismus, ist die Wahrnehmung allen Lebens vom männlichen Standpunkt aus, mit der daraus folgenden Unfähigkeit, die Tätigkeiten und das Leben von Frauen richtig wahrzunehmen oder zu beschreiben. Danach ist der Normalfall männlich, weiblich ist Zusatzeigenschaft, Ausnahme. Die Gleichsetzung von Mensch und Mann geschieht weitgehend unterbewusst, deshalb ist der Androzentrismus weit weniger leicht als der offene Sexismus zu erkennen. Diese Sichtweise ist vielfach auch von Frauen selbst verinnerlicht.
Emanzipation (lateinisch: Befreiung), die rechtliche und faktische Befreiung einer Klasse oder Gruppe aus einer sozialen Abhängigkeit, z.B. der Sklaven, der Farbigen, der Frauen. Eine auf Selbstbestimmung gerichtete Bestrebung. |
A. Der Zugang über die BefreiungstheologieIn den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts formierte sich die Befreiungstheologie als theologische Bewegung. Zusammen mit den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten der lateinamerikanischen Länder waren es zwei große kirchliche Ereignisse, die sie hervorbrachten: a) das 2. Vatikanische Konzil mit seinem ausgesprochenen Willen zum aggiornamento und zur Ausrichtung der kirchlichen Seelsorge auf die Bedürfnisse der heutigen Welt; b) die 2. Vollversammlung des CELAM 1968 in Medellin, die die Lehre des Konzils den Bedürfnissen Lateinamerikas anpasste. Diese Bewegung hat sich später in anderen Ländern und Erdteilen verbreitet (Afrika, Asien, farbige Bevölkerung der USA). Es ist schwierig zu sagen, ob es "eine" Befreiungstheologie gibt, doch geht es bei ihrem Umgang mit der Bibel nicht um eine besondere Methode. Vielmehr liest sie die Heilige Schrift von eigenen sozio-kulturellen und politischen Standpunkten aus und bezieht sie auf die konkreten Bedürfnisse des Volkes. Wenn das Volk in Unterdrückung lebt, muss es in der Bibel Nahrung finden können, die es in seinem Ringen und in seinen Hoffnungen unterstützt. Die konkrete Realität darf nicht ignoriert werden, im Gegenteil, sie muss direkt angegangen und durch das Licht des Wortes der Heiligen Schrift erhellt werden. Hieraus entsteht die authentische christliche Praxis, die durch Gerechtigkeit und Liebe auf eine Wandlung der Gesellschaft hinzielt. Dieser Zugang basiert auf folgenden Grundeinsichten:
Die Gemeinschaft der Armen ist der beste Adressat der Bibel als Wort der Befreiung, denn die Befreiung der Unterdrückten ist ein gemeinschaftlicher Prozess. Die biblischen Texte sind ja überdies für Gemeinschaften geschrieben worden, und es sind Gemeinschaften, denen die Bibellesung in erster Linie anvertraut ist. Das Wort Gottes bleibt immer aktuell, denn den überlieferten "Gründungsereignissen" (Auszug aus Ägypten, Leidensgeschichte und Auferstehung Jesu) wohnt eine Kraft inne, die im Laufe der Geschichte zu immer neuen Aufbrüchen inspiriert. - Einordnung der MethodeDie Befreiungstheologie enthält wertvolle Elemente: ein tiefer Sinn für die erlösende Gegenwart Gottes, Betonung der gemeinschaftlichen Dimension des Glaubens, Dringlichkeit einer befreienden Praxis, die in Gerechtigkeit und Liebe wurzelt, eine neue Aneignung der Bibel, die aus dem Wort Gottes Licht und Nahrung für das Volk Gottes inmitten seiner Kämpfe und seiner Hoffnungen schöpft. So ist die volle Aktualität des inspirierten Textes hervorgehoben. Jedoch enthält ein solch engagierter Umgang mit der Bibel auch seine Risiken: Er stützt sich vor allem auf narrative und prophetische Texte, die Unterdrückungssituationen erhellen und eine Praxis inspirieren, die auf soziale Veränderung hin orientiert ist. Damit läuft die Befreiungstheologie Gefahr, bestimmte biblische Texte zu bevorzugen, andere aber zu vernachlässigen. Außerdem wurde unter dem Druck schwerwiegender sozialer Probleme der Akzent auf eine weitgehend irdische Eschatologie gelegt, was eventuell zulasten der transzendenten endzeitlichen Dimension der Heiligen Schrift geht. Die Exegese kann zwar nie ganz neutral sein, sie muss sich jedoch vor Einseitigkeit hüten. Um die biblische Botschaft im sozio-politischen Kontext zum Tragen zu bringen, haben sich die Theologen und Exegeten der Instrumente der Gesellschaftsanalyse bedient. Gewisse Strömungen der Befreiungstheologie haben in dieser Perspektive eine Analyse vorgenommen, die von materialistischen Doktrinen inspiriert war. Dies wirft Fragen auf, namentlich, was das marxistische Prinzip des Klassenkampfs anlangt. B. Der Zugang über die feministische TheologieDie feministische Bibelhermeneutik entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, im sozio-kulturellen Kontext des Kampfes für die Frauenrechte, mit dem Komitee der Bibelrevision. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, im Gefolge der Frauen-Emanzipation trat diese Strömung mit neuer Kraft in Erscheinung und hatte eine enorme Entwicklung, hauptsächlich in Nordamerika. Zwar geht es den Anhängern der feministischen Auslegung um das gemeinsame Ziel der Befreiung der Frau und der Erlangung gleicher Rechte wie die des Mannes, doch sind im Umgang mit der Heiligen Schrift verschiedene Hermeneutiken zu unterscheiden. Wir wollen hier drei Hauptformen erwähnen:
Die feministische Hermeneutik bedient sich der gängigen Methoden der Exegese, speziell der historisch-kritischen. Sie fügt aber zwei Forschungskriterien hinzu:
Was die neutestamentlichen Texte anbelangt, so ist das Forschungsziel die geschichtliche Rekonstruktion von zwei verschiedenen Situationen der Frau im 1. Jahrhundert: a) die gewöhnliche in der jüdischen und griechisch-römischen Welt und b) die schöpferisch neue, die in der Bewegung Jesu und in den paulinischen Gemeinden aufgekommen war, wo alle, Männer und Frauen, eine "Gemeinschaft von Jüngern und Jüngerinnen Jesu" geformt hätten. Es geht darum, für die heutige Zeit die vergessene Geschichte der Rolle der Frau in der Urkirche wieder zu entdecken. Was das Alte Testament betrifft, so haben sich verschiedene Studien um ein besseres Verständnis des Gottesbildes bemüht. Der Gott der Bibel ist nicht die Projektion einer patriarchalen Mentalität. Er ist Vater; er ist aber auch ein Gott der Zärtlichkeit und mütterlicher Liebe. - Einordnung der MethodeDie positiven Beiträge der feministischen Exegese sind zahlreich. Seit ihrem Aufkommen nehmen die Frauen aktiver an der exegetischen Forschung teil. Es ist ihnen oft besser als den Männern gelungen, die Präsenz, die Bedeutung und die Rolle der Frau in der Bibel, in der Geschichte der christlichen Ursprünge und in der Kirche wahrzunehmen. Die moderne gesellschaftliche Aufwertung der Würde und der Rolle der Frau, lässt uns dem biblischen Text andere Fragen stellen, was zu neuen Entdeckungen führt. Dazu findet und korrigiert die frauliche Sensibilität gewisse Interpretationen, die tendenziös waren und darauf hinausliefen, die Herrschaft des Mannes über die Frau zu rechtfertigen. In dem Maß aber, in dem sich die feministische Exegese einem einseitigen Programm verschreibt, setzt sie sich der Versuchung aus, die biblischen Texte in tendenziöser und damit in anfechtbarer Weise zu interpretieren. |
(Literatur: H. Merklein u. E. Zenger (Hgg.) Die Interpretation der Bibel in der Kirche: Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission... Reihe Stuttgarter Bibelstudien, Nr. 161. Stuttgart, Kath. Bibelwerk, 1995: 96-125. - - - KBW u. B. D. Leicht (Hgg.) Grundkurs Bibel Neues Testament: Werkbuch für die Bibelarbeit mit Erwachsenen, Bd. 1. Stuttgart, Kath. Bibelwerk, 2002: 2|L|6-1 bis 6-3.)